Sonntag, 23. Mai 2010

der längste tag seines lebens

der mann hatte gar keine eile, von hier wegzukommen. was gerade ihn selbst am meisten erstaunte. er hatte nun freizeit. wie sehr er dieses wort gehasst hatte. regelrecht verabscheut. freizeit. was für loser. menschen, die keiner ordentlichen arbeit nachgingen, menschen, die ihre gesamte zeit damit verbrachten, in der stadt rumzuhängen und leute anzugaffen, mit dümmlich leerem gesichtsausdruck. was für versager sie doch waren, diese menschen mit zuviel freizeit.
nicht mal wirtschaftlich waren sie zu gebrauchen. wenn man schon so viel zeit hat, in die stadt zu gehen, sollte man wenigstens gehörend die kreditkarten glühen lassen, das war immer sein credo nummer eins gewesen. nur nie nutzlos sein. rein in die geschäfte und denen mal zeigen, wozu ein nützliches mitglied der gesellschaft fähig ist. die wirtschaft ankurbeln. und nach der arbeit mit den kollegen einen draufmachen, die teuersten speisen bestellen, und beim wein nicht zögerlich sein, der beste ist gerade genug für uns businessmenschen. der wert eines menschen wird daran gemessen, wieviel kohle er hat, ist ja klar. braucht man gar nicht darüber diskutieren, oder? sind eben die dinge des lebens, die man schon mit der muttermilch aufsaugt. nur loser wissen nicht bescheid. und er war nie ein loser gewesen. hatte es weit gebracht in seiner sparte. man blickte zu ihm auf. man hörte auf ihn, ja, man hatte einen heidenrespekt. er hatte einen der top-parkplätze vor der firma. sein bmw stand jetzt da, wo er hingehörte. sein neuer bmw. und seine sekretärin war zucker.

das einzige, was er eben nicht hatte, war freizeit. er hätte sowieso nicht gewusst, wohin er gehen sollte. vielleicht in die stadt, für seine jeweilige freundin was hübsches schweineteures einkaufen, damit sie ihn umso mehr wollte. damit sie sich bei ihren freundinnen blicken lassen konnte. alles sündteure callgirls, da war er ohne illusion. nur dass sie das alles unter liebe abbuchten. er tat es nicht und er war immer damit gut gefahren. liebe? zu seiner arbeit, ja. die firma war seine wahre liebe, immer gewesen. bis zu dem tag...also eigentlich gestern...gestern abend, genau gesagt.

es war ein stinknormaler arbeitstag gewesen. er hatte die streicheleinheiten der zuckermaus im vorzimmer kassiert wie an jedem tag, hatte sich dann mit einigen der üblichen verdächtigen zum mittagessen verabredet, fast alles speichellecker, die an seinen job wollten und ihn umschwärmten wie die fliegen den abfall. schlechter vergleich. jedenfalls zog er immer eine meute bewunderer hinter sich her. man wollte von ihm lernen. seine erfolgsgeschichte hören. und natürlich seine börsentips, darauf waren sie alle scharf. als sie dann gemeinsam in der kantine sassen - für mehr war mittags kaum zeit - war ihm trotz gedränge und geschiebe zwischen den tischen aufgefallen, dass eine gestalt ganz allein an einem tisch gesessen war. ein kollege, einer der besten, der härtesten. ein macher. er sass dort ganz allein, was ungewöhnlich war und man schien seine anwesenheit nicht zu bemerken. die gestalt sass dort, in gedanken versunken, im grauen zwielicht des herbsttages, vor einem glas bier. sein blackberry lag vor ihm auf dem tisch, das handy daneben. unbenutzt. einigermassen seltsam für einen wie den dort. einen, der immer telefonierte, dessen stimme man im stimmengewirr der kantine immer klar ausmachen konnte. er sah noch einmal genauer hin. sein kollege hatte die krawatte gelockert und den hemdkragen geöffnet. er sah aus, als wäre ihm totenübel. aber bald vergass er ihn über der konversation. er hatte andere probleme. sein terminkalender war randvoll und der tag würde noch lang werden.
am abend, als er das bürogebäude verliess, sah er, dass im büro des kollegen noch licht brannte. überstunden. nicht übel. guter mann.

nun befand er sich hier an diesem strand an einem fahlen herbstmorgen, blickte starr aufs wasser und hatte den längsten tag seines lebens vor sich. das wasser sah grau aus, bleiern, unfreundlich. nicht gerade ein tag, an dem man normalerweise an den strand geht, nicht freiwillig, es sei denn, man musste mit sich selbst allein sein. zum ersten mal seit langem hatte er nicht zuhause geschlafen. er war schon zuhause angekommen, hatte es sich vor dem essen mit einem aperitiv vor dem fernseher bequem gemacht, die nachrichten eingeschaltet. dann hatte sein handy geläutet. er hatte den anruf entgegen genommen. 5 minuten danach war er wortlos aufgestanden und hatte seine gemütliche, luxuriöse wohnung verlassen, war in seinen wagen gestiegen und die ganze nacht ohne ziel herumgefahren, bis er sich schliesslich bei morgengrauen hier gefunden hatte, an einem einsamen strand, wo zur hölle auch immer der war. er wusste es nicht. konnte am anderen ende der welt sein und es war ihm egal. genauso wie sein handy, das einsam und stundenlang in seinem auto vor sich hingeläutet hatte.

veruntreuung von firmengeldern. ein riskanter aktiendeal, der schiefgegangen war. er nickte bitter. kann passieren. wenn man sich zu viel zutraut, wenn man es gewohnt ist, immer die richtigen entscheidungen zu fällen, dann konnte sowas passieren. es war das schlimmste, was passieren konnte, aber es konnte nun mal passieren und irgendwie konnte man immer noch etwas geradebügeln, man war ja erfinderisch, man konnte vielleicht noch einiges davon retten, zumindest es versuchen. kein grund, sich einfach so...
er rauchte sich eine zigarette an. irgendwann in dieser nacht hatte er wieder zu rauchen begonnen. einfach gesprungen. der mann hatte familie. eine frau und zwei kinder. und alles, was er ihnen hinterlassen konnte, waren ein paar zeilen, dass es ihm leid täte. klar tat es ihm leid, das hätte er gar nicht erwähnen müssen. keine entschuldigung würde ausreichen, gar keine. dass er ein versager war. so hatte er geschrieben. er hätte versagt und nun war alles zu ende. aus. vorbei. jahrzehntelang geschuftet wie ein blöder, dann eine amoktat und schon war alles vorbei.
er sah den kollegen noch immer vor seinem geistigen auge im herbstlichen zwielicht sitzen. er hätte hingehen sollen. er hatte ja gemerkt, dass der mann völlig hinüber war, aber er war lieber mit seinen leuten zusammengesessen und hatte sich von ihnen honig ums maul schmieren lassen. er sah noch immer die zusammengesunkene gestalt des mannes vor sich. zum ersten mal seit langem kamen ihm die tränen.

er ging einige schritte den strand hinunter, und dann so weit, bis das kühle grau seines bmw ausser sichtweite geriet. er war völlig ratlos. er hatte noch nie so viel zeit gehabt. den ganzen tag lang. freizeit, wie einer, der völlig nutzlos war. er hatte keine eile, von hier wegzukommen. es war ihm egal, was in seinem real life gerade passierte, das er hinter sich gelassen hatte. vielleicht nur für einen tag. den längsten tag seines lebens.