Freitag, 25. Juni 2010

Der Herrscher der Welt und sein güldener Stern

Freitag, 29. April 2005





Für Imuhar




Die Grabsteine ragten schief aus der trockenen Erde. Nach jüdischem Brauch waren sie von Angehörigen und Freunden der Verstorbenen mit kleinen Steinchen bedeckt worden. Einige davon waren heruntergefallen und lagen um die Gräber. Für jeden Stein eine Erinnerung, ein kurzes Wort, eine Kerze im Fenster, ein Gebet, oder ein Taschentuch voll Tränen. Es kann durchaus sein, dass ein Grabstein erst stürzt, nachdem der letzte Erinnerungs-Stein heruntergefallen ist. Erst dann kippt er um und bleibt so liegen, wie er gefallen ist – andere Steine versinken im Erdboden und verschwinden auf diesem Weg langsam aus der Erinnerung.

Rings um den Friedhof standen die Häuser der alten Judenstadt oder besser, das, was von ihnen noch geblieben war. Ebenso wie die Grabsteine waren sie windschief und ragten in die Gassen hinein, als mochten sie vornüberkippen. Einige alte Leute wohnten noch darin, die jüngeren waren längst weggezogen, in modernere Gegenden mit komfortablen Häusern aus Glas und Stahlbeton. Keiner von ihnen besuchte den Friedhof und auch die Alten blieben weitgehend allein. Die schwarze Gestalt, die wie ein Rabe auf der Lehne der Bank hockte, bemerkten die wenigsten von ihnen. Diejenigen, die sie sahen, zogen gravitätisch den Hut vor ihr oder winkten kurz herüber, so wie man etwas Vertrautem zuwinkt, vielleicht einem Gegenstand in einer staubigen Auslage, den man schon ewig kennt und dem man zuraunt: „Na, noch immer da? Sei froh, du hast es besser als die meisten, du hast deine Ruhe.“ Der schwarzgekleidete, blasse junge Mann erwiderte freundlich jeden Gruss, er hielt jedoch immer Abstand zu ihnen. Bis auf den denkwürdigen Tag im Oktober, als ein Windstoss über die Dächer direkt in den Friedhof sprang, ihm die Haare zauste und dem Herrn vor ihm den Hut entriss, den er kurz zuvor noch weit in die Luft gehalten und geschwenkt hatte. Der Hut rollte auf ihn zu und kam direkt vor der Bank zum Stillstand, dahinter kam schon der alte Herr eilig angelaufen. Der junge Mann war schneller, hob den Hut auf, staubte ihn noch ein wenig ab und gab ihn zurück. Und über dem Hut, der zwischen ihnen auf der Bank lag, entspann sich ein langes Gespräch mit dem Besitzer des entlaufenen Hutes, der sich als Immanuel Rosenkranz vorstellte. Rosenkranz war erstaunt, ihn hier zu treffen, einen jungen Mann, mitten auf dem Friedhof an einem kalten, windigen Tag wie diesem, und noch erstaunter war er, festzustellen, dass er ihn, ohne es bemerkt zu haben, tagein, tagaus gegrüsst hatte. Unbewusst, sagte er, und er habe ihn auch nicht wirklich wahrgenommen, sondern den Eindruck gehabt, als würde ein Rabe auf der Rückenlehne der Bank sitzen und Raben, so Rosenkranz, grüsse man generell, da Raben gegrüsst werden wollen und auch selbst grüssen. „Genau so ist es“, sagte der Rabenmann, „Raben sind gesellige Geschöpfe und nicht halb so unverschämt wie die Krähen, die sich Menschen ja geradezu aufdrängen.“ Ein Gespräch über Krähen folgte, und dann sprachen sie über Bücher und den Wind.

„Ich“, so sagte Rosenkranz nicht ohne Stolz, aber gänzlich frei von Arroganz, „bin der Herrscher der Welt, denn ich besitze eine Bibliothek mit mehreren tausend Büchern und Manuskripten.“ Er holte einen kleinen Gegenstand aus der Manteltasche. „Hier, für dich zur Erbauung“, fuhr er fort und reichte ihm ein in brüchiges Leder gebundenes Büchlein. „Du liest doch Gedichte? Es stammt aus meiner Sammlung, ich habe es heute morgen, ohne weiter nachzudenken, aus dem Regal genommen und eingesteckt. Doch mir fällt gerade ein, dass es in hebräisch geschrieben ist. Verstehst du hebräisch?“ Der Rabe krächzte einige Sätze, die Rosenkranz höchst erfreut zur Kenntnis nahm. Dass er sich gerade mit einem Raben unterhielt, war ihm nicht einmal aufgefallen. „Du musst“, sprach er zu dem grossen, blauschwarzen Vogel, „unbedingt einmal zum Tee kommen und du musst meine Bücher sehen. Wir trinken Tee und unterhalten uns über Literatur.“ „Auf hebräisch“, krächzte der Vogel und deutete eine kleine Verbeugung an, die Rosenkranz unverzüglich erwiderte. „Auf hebräisch“, wiederholte er und erhob sich, streckte dem Vogel seine Hand hin und schüttelte ihm die Schwinge. „Es wird Zeit“, sagte er, „ich hebe mich hinweg.“ „Genauso verhält es sich mit mir“, antwortete der Rabe. „Es gibt heute noch viel zu tun.“ Sie trennten sich und entfernten sich in unterschiedliche Richtungen – der eine ging, der andere ... hüpfte.

Rosa Güldenstern fühlte sich heute jünger, als sie eigentlich war. Jünger, als sie sich fühlen sollte, schalt sie sich und lächelte über sich selbst. Sie warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel, zupfte ihr kleines, schwarzes Hütchen zurecht, das sie immer bei ihren Friedhofsbesuchen trug, und machte sich auf den Weg. Als sie aus der Tür trat, sprang ihr der Wind schon entgegen, ungebärdig wie der Frühlingswind und genauso verwegen. Er querte die Strasse, setzte über die Friedhofsmauer hinweg und sie folgte ihm, wobei sie es vorzog, den Weg wie immer durch das Portal zu nehmen. Als sie dem verschlungenen Pfad zwischen den Steinen folgte und der Wind neben ihr hersprang, dachte sie zum ersten Mal seit Jahren wieder an etwas anderes als an ihre einsame Wohnung, ganz ohne schlechtes Gewissen, was sie einigermassen erstaunte. Sie dachte an die Welt, die hinter den Mauern lag und die der Wind doch kennen musste, Ägypten mit dem breiten schimmernden Band des Nils, Afrika mit seinen gelben Savannen und den fremden, wilden Tieren, Sansibar, dessen Name allein schon nach Abenteuern klang, nach blauen Wellen, Gewürzen und Handelsschiffen aus alter Zeit. Sie sah hinüber zur Mauer, die den Friedhof umschloss, und dachte an den Horizont, der sich über das Meer spannte, so weit das Auge reichte. Ihre Augen schweiften weiter, die Mauer entlang, bis ein Gegenstand, der auf der Bank in der Mauernische lag, ihr Interesse weckte.

Ein Buch, offenbar sehr alt, das auf ihrer Bank lag – ihre Bank deswegen, da sie, ermüdet von den Arbeiten am Grab und noch viel mehr von der Einsamkeit, die bleiern auf ihr lastete, sich oft darauf niedergelassen hatte, um auszuruhen. Diese Bank war ihr geheimes Refugium geworden. Oft hatte sie auf ihrem Weg zum Grab ihres Mannes hinübergelächelt, ohne es zu bemerken. Das alte Buch lag offen da, wie eine Einladung, näherzutreten, es aufzunehmen und darin zu lesen. Sie lächelte, fühlte die Versonnenheit des Augenblicks, wie damals, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war, das sich eingebildet hatte, von wundersamen Momenten wie diesem leben zu können. Dann zögerte sie, überlegte ein bisschen. Es ging sie eigentlich nichts an. Jemand hatte sein Buch vergessen und dieser Jemand würde den Verlust bemerken und wiederkommen, um es sich zu holen. Sie wandte sich zum Gehen, doch da war der Wind, der Frühlingswind, und sprang sie von hinten an, schob und drängte sie vorwärts, bis sie ihm den Gefallen tat und zur Bank trat.
Eine grosse, bläulich schimmernde Rabenfeder lag als Lesezeichen zwischen den Seiten. Sie setzte sich, strich leicht darüber hinweg, las die ersten Zeilen...

Rosenkranz, der noch eine Runde über den Friedhof gegangen war und nun rasch in Richtung Portal ausschritt, sah schon von weitem die kleine Gestalt Rosas auf seiner Bank sitzen. Er kannte sie vom Sehen und Grüssen, doch sie hatten sich nie richtig miteinander unterhalten. Die Gelegenheit hatte sich nie ergeben. Sie beugte sich über einen Gegenstand, den er sogleich erkannte - das Buch, das er jemandem geschenkt hatte, jemandem, an dessen Gesicht sich Rosenkranz nicht erinnern konnte. Er sah Rosa an, zögerte...beinahe hätte seine Unsicherheit gesiegt, er hätte gegrüsst wie immer und dann seinen einsamen Weg durch die Reihen der Gräber genommen.
Wahrscheinlich hätte er es bereut, vor allem dann, wenn er abends beim Tee sass, ein Buch vor sich aufgeschlagen, und sich jemanden wünschte, der seine Gedankengänge mit ihm teilte, sein Fernweh, die Sehnsucht nach etwas, das er nicht besitzen konnte. Der Wind flüsterte davon, schon den ganzen Tag, und Rosenkranz hatte ihn tunlichst ignoriert und das Gefühl, das jedoch sehr angenehm war, weit von sich gewiesen. Ein Gefühl wie eine Reise zurück in die Tage seiner Jugend, die Tage, als er begonnen hatte, sein Fernweh mit Hilfe seiner Bücher zu stillen und Kopfreisen zu unternehmen. Er blieb stehen und sah zu Rosa hinüber. Konnte er es wagen, sie anzusprechen? Er wusste doch gar nichts von ihr. Er kannte nur ihre Stimme, eine leise, sanfte, weich modulierte Stimme, die so gut zu ihr passte. Unfähig, sich von ihrem Anblick zu lösen, stand er linkisch vor ihr und fühlte sich wie ein Schuljunge, der nicht mehr weiter wusste.
Und der Wind gesellte sich zu ihm und umfasste vorsichtig seine Schultern, schob ihn langsam auf Rosa zu, die noch immer vertieft in seinem Buch las. Er sah die Rabenfeder in ihrer Hand – wie ein Erkennungszeichen – und mit der Erinnerung schwand seine Unsicherheit dahin und machte einer tiefen Ruhe und Gelassenheit Platz. „Ich bin der Herrscher der Welt“, flüsterte er und schritt auf Rosa zu.


Epilog

Der Rabe sass nicht weit von ihnen entfernt auf einem Grabstein und beobachtete sie mit seinen schwarzen, glänzenden Augen. Er krächzte vor sich hin und klapperte mit dem Schnabel. Jemand, der gerade jetzt zufällig des Wegs gekommen wäre und den Vogel gewahrt hätte, hätte beschwören können, dass dem Tier eine beinah menschlich wirkende Zufriedenheit anhaftete. „Der Herr der Welt und sein güldener Stern“, kommentierte der Vogel verhalten, wie um die beiden, die sich nun leise miteinander unterhielten, nicht zu stören. Und der Wind, der ihn zu verstehen schien, zauste sein Gefieder, fuhr unter seine Schwingen und hob ihn weit in den Himmel empor.

Donnerstag, 10. Juni 2010

Invictus

Out of the night that covers me,
Black as the pit from pole to pole,
I thank whatever gods may be
For my unconquerable soul.

In the fell clutch of circumstance
I have not winced nor cried aloud.
Under the bludgeonings of chance
My head is bloody, but unbowed.

Beyond this place of wrath and tears
Looms but the horror of the shade,
And yet the menace of the years
Finds, and shall find, me unafraid.

It matters not how strait the gate,
How charged with punishments the scroll,
I am the master of my fate:
I am the captain of my soul.


William Ernest Henley