Donnerstag, 14. Mai 2009

die verlassene puppe

die puppe sass aufrecht in ihrem sitz am fenster. nicht dass es etwas ausmachen würde, wo sie sass. sie starrte mit leeren augenhöhlen geradeaus. von der meereslandschaft, die vor dem zugfenster vorbeiglitt, konnte sie natürlich nichts erkennen. das fenster stand einen spalt weit offen und frische luft drang ins abteil. eine rotblonde haarsträhne wehte in ihr gesicht.
das mädchen war aufgestanden und hinausgegangen, nicht ohne der puppe noch einmal die spitzenhaube zurechtzurücken und ihr übers gesicht zu streichen. sie war aufgestanden und hatte sich noch einmal nach ihr umgedreht, ihre augen waren traurig gewesen, doch sie hatte nicht geweint. an der hand einer erwachsenen frau war sie auf den gang getreten und dann ohne sich umzublicken weiter gegangen. nachdem sie die tür zum abteil leise hinter sich zugezogen hatte.

die puppe starrte geradeaus. ihre händchen lagen in ihrem schoss aufeinander, als wären sie gefaltet worden. ein ganzer tag und eine nacht waren vergangen, ohne dass sich etwas getan hätte. nun war es morgen, das erste sonnenlicht drang durch das fenster des abteils und fiel auch auf ihr haar, das wie menschenhaar glänzte. dass es sich tatsächlich um menschenhaar handelte, war nur den kennern der puppenmarke bekannt. es handelte sich um ein teures modell aus paris, aus einer zeit, die man heute schon vergessen hatte. aus einer zeit der grossen namen, der haute couture, der stilikonen, der echten schönen dinge. sie war eines davon. ihr gesicht aus bisquitporzellan leuchtete,als ein sonnenstrahl darauf fiel, die verirrte haarsträhne, die ihr ins gesicht fiel, schien funken zu sprühen, rotgoldene funken, wie flüssiger bernstein. das kleid der puppe war aus altrosafarbenem damast gefertigt, mit häkelspitze an den ärmeln sowie am ausschnitt des kleides. blassviolette borten zierten das kleid, das mit winterweissen perlen und funkelnden glassteinen in dunkelviolett und burgunderrot bestickt war.

wie sie so da sass, bot sie ein bild von exqusisiter surrealer und morbider schönheit. eine puppe allein in einem verlassenen zugabteil am fenster, mit einer winzigen hutschachtel am nebensitz, wie eine kleine reisende, die am zielbahnhof von ihren eltern abgeholt werden würde. nur dass ihre mutter nicht mehr hier war. sie war irgendwo mitten auf der strecke ausgestiegen. obwohl sie es nicht gewollt hatte. die erwachsene frau hatte sie am arm genommen und hinter sich hergezogen und beide waren an einer haltestelle ausgestiegen, die eigentlich stillgelegt worden war, schon vor langer zeit. die haltestelle war nicht einmal im fahrplan verzeichnet gewesen. der bahnhof hatte ungastlich gewirkt, nicht passend für ein junges mädchen, traurig und grau. das junge mädchen war der einzige farbtupfer gewesen, doch als sie sich vom zug entfernt hatte, waren die farben ausgeblichen, als würde sich ein nebliges tuch über sie legen, klamm und kalt und schrecklich grau. sie war leicht gebeugt gewesen, als sie an der hand der frau gegangen war.
der schaffner betrat den waggon und setzte sich auf den platz gegenüber der einsamen puppe, betrachtete ihr funkelndes kleid, beugte sich vor und strich ihr leicht über die weisse wange mit dem hauch von aufgemaltem rosafarbenem puder darüber. sie haben sie weggebracht, sagte er. niemand dachte, dass es so weit kommen würde. hier auszusteigen, mitten auf der fahrt, und das, noch bevor die strecke einigermassen interessant geworden ist... sie hatte nie die chance, das hier zu sehen. er lächelte traurig. und dich musste sie hier lassen. gerade dich. du warst ihr schatz, so sagte sie zu mir, aber dort, wo sie jetzt hingeht....es ist ein kleiner tod, das erwachsenwerden. manche überleben es, andere hingegen...die träume verschwinden, weisst du. und irgendwie macht man es immer auch freiwillig. wenn sie sich wirklich gewehrt hätte, dann würde sie jetzt noch hier sitzen, zusammen mit dir. nach einiger zeit wird sie dich vermissen. sie wird sich nach dir sehnen und dann wird sie irgendwann wieder hier auf der strecke stehen. sie hätte mit uns reisen können, aber manche ziehen einen langen und qualvollen fussweg vor, über berge und täler, durch dornenhecken und giftiges gestrüpp. du wirst sie nicht wiedererkennen, wenn sie wieder einsteigt. sie wird traurig aussehen. faltig sein und müde. sie wird dich auf den schoss nehmen und langsam werden die erinnerungen wiederkommen. vergiss nicht, dass du ihre seele bist. auch wenn du jetzt so aussiehst, leer und kalt. das warst du nicht immer, ich weiss.
die puppe starrte vor sich hin. in ihren leeren augenhöhlen blitzte für eine sekunde ein lichtstrahl auf, gebündeltes licht in allen regenbogenfarben. dann verschwand es so schnell, wie es gekommen war und in ihren leeren augenhöhlen war nichts mehr als grau.


dennoch war sie sehr schön. es war nur so, dass ihre schönheit etwas schreckliches bekommen hatte, ähnlich einer relique oder eines konservierten leichnams. wir werden dich einfach hier sitzenlassen, sagte der schaffner. du hast ein ganzes abteil nur für dich. schade, murmelte er. so schade, dass das mädchen diesen anblick nicht mehr sehen konnte. gerade jetzt, wo es interessant wird. er beugte sich zu der puppe vor und begann ihr mit leiser stimme zu beschreiben, was er gerade sah. es war für später, wenn das mädchen, das dann eine ältere frau sein würde, wieder am bahnsteig warten würde. warten, auf das, was inzwischen passiert war, auf die geschichten und gefühle...heimwehkrank und voller sehnsucht. du wirst ihr alles zeigen, sie wird es in deinen augen sehen können, erklärte er der puppe.
es ist für später. wenn ihr wieder richtig sehen könnt, du und sie.

Sonntag, 10. Mai 2009

das lesezeichen

er blätterte noch mal sein abgegriffenes notizbuch durch. eine stelle war anscheinend vor einiger zeit für ihn besonders wichtig gewesen. er hatte zwischen die seiten einen grashalm als lesezeichen eingelegt. der grashalm war vertrocket, bräunlich und sah wie ein strohhalm aus. trotzdem sah es irgendwie bedeutend aus. wichtig. auch wenn es nur damals gewesen war. damals war er aber besser drauf gewesen als jetzt, das musste er sich eingestehen. er hatte abgebaut in den letzten monaten. hatte sich vom schönen schein blenden lassen, der nichts weiter ist als eben nur schein. schein hat ja normalerweise mit licht nichts zu tun. blendwerk. so könnte man sagen. bis man nichts mehr erkennen kann. schon gar nicht sich selbst.

jedenfalls..der grashalm. bescheiden steckte er zwischen den seiten und sah dennoch viel besser aus als ein lesezeichen aus leder mit goldverzierung. er lächelte. ohne dass er das heft aufschlagen musste, wusste er auf einmal, was dieses lesezeichen zu bedeuten hatte.

halt ein und atme tief durch. sieh in dich rein. und begegne dir ohne verstellung. sei ehrlich. sei du selbst. imitiere niemanden. sei nur du.

er wartete noch einen moment, fast misstraurisch. war es wirklich? dieses gute gefühl, von innen heraus, das wärmte, wie nichts anderes wärmen konnte, es war tatsächlich wahr. manchmal denkt man sich tot, sagte er laut und schüttelte über sich selbst den kopf.

er stand auf, sah noch einmal über das meer...er konnte es jetzt erst wieder fühlen. die ruhe, die davon ausging, machte ihn angenehm schläfrig und er wusste, er würde sich nun richtig ausruhen können. vielleicht muss man bestimmte fehler machen, damit man erst begreift, wie schön das war, was man hatte...damit man darum kämpft. es ist es wert.