Sonntag, 14. November 2010

nehmen sie, was sie brauchen und geben sie, was sie können

er betrat den kleinen laden ohne weiter nachzudenken. er wusste nicht mal, ob er sein portemonnaie eingesteckt hatte, als er am späten nachmittag das hotel verlassen hatte, um bei heraufkommender dunkelheit die strassen und gassen prags zu erkunden. die meisten geschäfte lagen ihm sowieso nicht besonders. er war kein fan von touristenkram, und auch diese ethnoläden, die seit neuestem überall eröffnet wurden, liessen ihn einigermassen kalt. das meiste war sowieso schund. hohler blödsinn für menschen, die keine zeit hatten, um über ihr leben nachzudenken und die sich deshalb ihre gesamten lebensweisheiten aus den dubiosesten quellen zusammenklaubten. nein, mit ihm nicht. er wollte etwas finden, das ausstrahlung hatte.

eigentlich wollte er gefunden werden.

er glaubte fest daran, dass es sowas gab. dass man gefunden wurde, wenn man einen offenen geist hatte, und sinnesorgane, die noch nicht von stress und dauerlärm beeinträchtigt waren.

nun stand er in diesem uralten laden, ganz allein. der besitzer des ladens war anscheinend kurz hinausgegangen, um frische luft zu schnappen oder selbst besorgungen zu erledigen. es störte ihn nicht. instinktiv wusste er, dass er hier willkommen war. ganz hinten im laden stand ein schreibtisch, der mit büchern und papieren übersät war. eine altmodische schreibtischlampe mit grünem schirm warf einen kegel aus weichem licht auf die schreibtischplatte. ein handbeschriebener zettel lag mitten auf dem tisch und weckte sein interesse. es war eine alte schrift, wahrscheinlich die handschrift eines alten menschen, er dachte an einen weisshaarigen mann, der inmitten von büchern seinen lebensabend verbrachte und musste lächeln. nehmen sie, was sie brauchen und geben sie, was sie können, stand auf dem zettel.

nehmen sie, was sie brauchen. er schüttelte den kopf über so viel vertrauensseligkeit. die bücher waren wertvoller als alles, was er gerade eben in den anderen schaufenstern gesehen hatte. viel wertvoller. sie waren alt, manche von ihnen besassen prachtvolle einbände und waren wohl auch mit illustrationen versehen, vielleicht sogar mit echten lithographien. man könnte sich hier herrlich bereichern.

könnte man das wirklich? seltsamer gedanke. vielleicht war es kein zufall, dass der laden leer war. es könnte ja sein, dachte er und fühlte sich wie ein kind, das noch an wundersame begebenheiten glaubt, ja, es könnte sein, dass das alles kein zufall ist. die meisten finden den laden wahrscheinlich nicht.


er wollte alles besitzen, was er hier sah. alles war nach seinem geschmack, und der impuls, einen stapel bücher auszusuchen, damit den laden zu verlassen...fluchtartig...war plötzlich sehr stark. ein paar münzen zurücklassen, und wieder mal viel geld gespart. es wäre einfach.

doch es ging ja eigentlich um den wert. die wertschätzung, die man diesen gütern erwies, die eigentlich so gut wie unbezahlbar waren. "was sind dir diese alten bücher wert?" dachte er. er wusste, dass es sehr viel war. er betrachtete die regale, die alten prachtvollen bände, und schüttelte den kopf. es ging um ein ganz bestimmtes buch. er hatte vor, es zu finden. das buch, das er seit seiner jugend gesucht hatte, er vermisste es. es war verloren gegangen, er konnte sich nicht mehr erinnern, wer es damals genommen und nie zurückgebracht hatte.


er suchte lange. es war spät am abend, als er es endlich ganz oben in einem regal entdeckte. er nahm es vorsichtig in seine hände, viel zärtlichkeit lag in dieser geste, er hatte nicht gewusst, dass er dazu noch fähig war. das eselsohr, mit dem er damals seine lieblingsgeschichte markiert hatte, der winzige fleck auf dem einband..er kannte das buch. sein name, in kinderschrift auf der ersten seite, verblasst zwar, aber noch gut lesbar. seine hände zitterten, als er nach dem portemonnaie in seiner manteltasche tastete und einige geldscheine heraussuchte, viel zuviel für ein kleines altes kinderbuch. mehr, als er in dieser stadt ausgeben wollte. und trotzdem zu wenig, denn es war sein buch. er legte das geld neben den handbeschriebenen zettel, trat auf die menschenleere dunkle strasse hinaus und machte sich auf den weg zurück ins hotel, das kleine buch fest an sich gedrückt.


nehmen sie, was sie brauchen und geben sie, was sie können

der wert der dinge ist manchmal unschätzbar gross, mit gold oder geld nicht aufzuwiegen. ein teil der unserer wertschätzung der dinge ist also die liebe. es muss die liebe sein. ohne liebe sind alle dinge wertlos.


für peggy

Sonntag, 7. November 2010

spätherbst

meistens betrachtet er die welt durch einen filter. er legte ganz einfach einen schleier über die welt und filterte die grellen farben aus. was übrig blieb, war meistens nur grau. und er fühlte sich wohl in seiner grauen welt. sie war beruhigend und sicher. nichts würde jemals stören. nichts würde ihn berühren, nichts würde ihn traurig machen oder wütend. er fühlte sich immer gleich zufrieden, und die zeit verging wohl so schnell wie bei allen anderen. sie alterten, doch er selbst blieb immer gleich.

eines tages jedoch, es war im späten herbst, war er unterwegs, um noch einen letzten blick auf die graue herbstlandschaft im zwielicht zu werfen. er schlenderte an den gärten entlang, nahm den weg durch die vorstädte, durch das labyrinth von gassen und strassen, und bald wusste er nicht mehr, wo er eigentlich war. in diesem viertel der stadt war er noch nie gewesen. doch es kümmerte ihn auch nicht. die grauen häuser und gärten sahen aus wie die in seinem viertel. jemand stand mitten auf der strasse vor ihm und blockierte den weg. eine kleine, zierliche gestalt. ein kleines mädchen war es wohl, sie trug einen warmen umhang, und hatte eine kapuze auf. er konnte ihr gesicht nicht sehen, doch er dachte, sie wäre wohl sehr jung, maximal 10 jahre alt. sie machte keine anstalten, weiterzugehen oder den weg freizugeben. also schritt er auf sie zu und blieb dann vor ihr stehen.

er lächelte, sagte, "hallo kleine", doch sie antwortete nicht. vieleicht hätte er einfach an ihr vorüber gehen sollen. seine welt hätte sich nicht im geringsten verändert, wäre er einfach weitergegangen und hätte dieses sonderbare kind ignoriert, doch er war auf seltsame weise neugierig geworden und sah sie weiterhin an, wartete.

sie kramte in der tasche ihres umhangs und holte einen grossen apfel heraus, hielt ihn ihm entgegen. verlegen griff er danach, murmelte seinen dank, doch die dankesworte blieben ihm im hals stecken. das was gerade mit ihm passierte, war sein untergang.

der apfel, den er in der hand hielt, leuchtet in klarem kräftigem rot. der graue filter löste sich auf, wurde blasser und durchsichtiger, bis rings um ihn die gärten in herbstlichem spätabendlicht leuchteten. seine hand war die eines alten mannes geworden. die kapuze des kindes war zurückgerutscht, uralte augen sahen ihn an, starrten unverwandt in seine verletzlichen alten augen. das uralte kind lächelte ihm zu, hauchte einen kuss in die luft. er schloss für einen moment die augen. der kuss brannte wie feuer. der schmerz war unbeschreiblich, er brannte in seiner seele, und dennoch wollte er nicht, dass dieser moment jemals aufhörte. ein teil des himmels, dachte er. und er wusste genau, welcher teil des himmels es war. als er die augen wieder öffnete, war das kind verschwunden. was von diesem tag blieb, war eine welt voller farben, jeder tag ein stück bunter, intensiver, die gefühle die er hatte, waren die eines kindes. er spielte, er malte, lachte und weinte.er war nicht mehr nur für sich, er fühlte alles rings um ihn, vor allem die menschen. er fühlte mit ihnen.

er wusste bis zuletzt nicht, ob er wirklich dankbar sein sollte. er wusste es einfach nicht.