Freitag, 6. September 2024
Sonntag, 17. März 2024
Der Schmetterling und der Jadevogel
Das einsam gelegene Haus auf dem Hügel machte den Eindruck einer chinesischen Gaststätte. Obwohl es spät am Tage war, hatte man darauf verzichtet, die Lampen anzuzünden. Auf der mit Ornamenten reich beschnitzten Eingangstür befand sich das gemalte Bild eines prächtigen roten Schmetterlings, dessen Flügel mit goldenen Ornamenten reich verziert waren. Die Tür war nicht verschlossen.
Der Weg herauf war lang gewesen. Sie war allein gekommen und wartete schon lange. Fröstelnd im Luftzug, müde, viel zu müde, um wieder aufzustehen und den Raum zu verlassen, obwohl sie es wollte, mit jeder Minute mehr, immer verzweifelter wünschend, einfach aufstehen zu können, den Raum zu verlassen, dann das Haus, auf die Strasse zu treten und dann nur noch zu laufen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, das Haus zu betreten, doch sie war glücklich gewesen, als sie es getan hatte, so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. So glücklich, dass ihr Herz wie ein kleiner Jadevogel war, der zum ersten Mal in seinem Leben davon träumte, zu fliegen und nie wieder landen zu müssen.
Sie konnte nicht mehr aufstehen. Sie war so müde, dass ihre Knochen wie aus Glas schienen und jeden Moment zu zerbrechen drohten. Sie wollte nichts mehr essen. Der süssliche Geruch von Tod und Verwesung, den sie kaum wahrgenommen hatte, als sie gekommen war, war inzwischen so stark, dass ihr Magen krampfte. Von den leeren Gängen schien ein Sog auszugehen, der sie ins Zentrum des Hauses zog, die Lampions schwankten im Luftzug, die Minuten verstrichen langsam wie zähflüssiger Teer.
Warum blieb sie hier?
Der leuchtend rote Schmetterling sass vor ihr auf der Tischplatte und starrte sie mit seinen Alienaugen an. Ekel überkam sie, eine Welle von Übelkeit, sie dachte an die Rote Pest und begann zu würgen. Der Schmetterling schlug träge mit den Flügeln und der Geruch von verwestem Fleisch wurde stärker. Mit halbgeschlossenen Augen sah sie die seltsam verschlungenen Ornamente auf seinen Flügeln, die hypnotisch auf und zuklappten. Sie hielt ihm einen Finger hin und er kletterte hinauf. Es war mehr Schmerz, als sie gedacht hatte. Niemals hatte sie gedacht, dass es einen Schmerz wie diesen gab, er war wie der Schmetterling: vollkommen.
Sie verlor binnen Sekundenbruchteilen ihren Verstand, es wurde schwarz und still um sie, ihr Bewusstsein schwand. Als sie sterbend vornüber sackte, mit dem Kopf auf den gefalteten Händen auf der Tischplatte ruhend, floss das Leben aus ihr heraus wie Blut aus einer offenen Wunde. Die verschlungenen Ornamente auf den Flügeln des rubinroten Schmetterlings wuchsen und bildeten neue Verzweigungen, DNA-Doppelhelixstränge, die sich zart und lieblich wie feinste Verzierungen über die Haut der Flügel zogen. Er zuckte im Rhythmus ihres sterbenden Herzens und sass dann still.
Die Lampions schwankten im Luftzug, der Schmetterling schlug noch einmal mit den Flügeln und erstarrte. Der Himmel überzog sich mit Grauviolett, die Abenddämmerung war hereingebrochen.
In der stillen Nacht begann der Jadevogel zu singen.
Der Schmetterling hingegen starb und zerfiel zu Asche.
Alles ringsumher versank in Nebel. Die Wände des Hauses wurden durchsichtig und begannen, sich aufzulösen. Für einen Moment schimmerten die Mauern wie von innen beleuchtetes rotes Glas. Dann war das Haus verschwunden, als wäre es von der Nacht verschluckt worden. Mondlicht beleuchtete den kahlen Hügel, auf dem sich nichts befand ausser den schlanken Stämmen einiger windzerraufter Fichten.
Als der Mond unterging und das erste Licht des Morgens über den Hügel kroch und den Stämmen der Fichten lange Schatten verlieh, fiel das Licht des ersten Tages auf die Mauern eines grossen Gebäudes, das den Eindruck einer chinesischen Gaststätte erweckte.
Auf der reich beschnitzten Eingangstür befand sich das gemalte Bild eines grün schillernden Vogels, der einen Zweig mit rubinroten Beeren im Schnabel trug.