Montag, 2. Dezember 2013

gestern im zug traf ich auf eine merkwürdige person


    ...die mir sofort lang und breit erzählte, dass sie eigentlich tot war. auch
    über ihre todesart redete sie gern und ausführlich. ich dachte bei mir, mein
    gott, es kann nicht angehen, dass jetzt schon die toten aus ihren löchern
    krabbeln und auf der welt herumgehen bzw. wie es in diesem unserem fall war,
    herumreisen. wir sassen zusammen in einem zugabteil, das äusserst schlecht
    durchlüftet war und ihr geruch - ich möchte nicht allzusehr ins detail
    gehen, aber sagen wir mal so: sie roch abgelegen - ihr geruch erfüllte bald
    das abteil bis in die letzte nische. als ich das fenster öffnen wollte,
    musste ich bemerken, dass es derartig von rost bewachsen, ja befallen war,
    dass ich keine chanche hatte, das vermaledeite ding auch nur sagen wir mal
    einen inch zu bewegen.


    ich rüttelte an dem nutzlosen fenstergriff, bis mein
    secondhandmantel von dior - sie wissen, werte freundin, wie sehr ich
    secondhand-haute couture mag - bis besagter altrosafarbener mantel (der mit
    dem schwarzen spitzenkragen, mein lieblingsstück) über und über mit rost
    befleckt war, der sich in grossen flocken von der korrodierten metallschiene
    löste und schon überall im abteil verteilt war. die kleine tote person, die
    es sich mir gegenüber bequem gemacht hatte, lachte inzwischen auf eindeutig
    hämische manier, ein unerzogenes kind, aber bildhübsch, also verzieh ich ihr
    die kleinen unartigkeiten und anstatt sie zu tadeln suchte ich in meiner
    handtasche lieber nach zuckerwerk, das ich für die lange reise in einem
    kleinen bonbon-laden im stadtzentrum von paris erstanden hatte.


    die kleine person wurde so zutraulich, dass sie sogar ihren sitzplatz wechselte und
    sich neben mir niederliess und nach einiger zeit spürte ich ihre kleine
    hand, die nach meiner griff. ihr geruch störte mich nicht mehr, ich war
    davon überzeugt, dass auch ich inzwischen schon genauso roch wie sie....



[lila von rittersbach: reisebriefe]