Sonntag, 13. Oktober 2019

das herz der dinge

sie hatte die alte kamera, die sie am dachboden gefunden hatte, tatsächlich bis hierher getragen. es war völlig unlogisch, was sie hier tat. normalerweise steckt man das ding in einen koffer oder in den rucksack, oder man verwendet überhaupt eine von diesen sündteuren kamerataschen, wie sie die touristen immer haben. aber nein, sie musste diese alte kamera tragen. von der wohnung weg runter zum traxi, dann am flughafen bis zum sicherheitscheck, wo die kamera wie ein relikt aus alter zeit zwischen den modernen handtaschen auf dem laufband entlangfuhr und auf der anderen seite von ihr schon erwartet wurde. und wieder hatte sie die kamera in die hand genommen und zum abflugschalter getragen und ins flugzeug hinein, und auch später, den ganzen marathon zu ihrem hotel, in die lobby und hinauf in ihr zimmer, hatte sie sie nicht aus der hand gegeben.

nun sass sie in ihrem hotelzimmer auf dem bett und schaute die kamera an. nahm einen schwarzweiss ilford aus der seitentasche ihres koffers, der in der silberfolie steckte, die die röntgenstrahlen des sicherheitschecks am flughafen abblockte und legte ihn vorsichtig ein. lächelte ein bisschen, legte die kamera neben das bett auf das nachtkästchen und begab sich dann bald selbst zur ruhe. vor dem einschlafen dachte sie noch kurz über die vermeintliche sinnlosigkeit ihres tuns nach. ihr vater wollte ihr vor ihrer reise eine digitalkamera kaufen, aber sie hatte dankend abgelehnt und gemeint, sie hätte ja schon eine kamera. was er mit leichtem kopfschütteln quittiert hatte, aber dann hatte er gelächelt wie immer, wenn sie solche dinge machte. aber wie willst du damit fotografieren, hatte er gesagt, die kamera funktioniert nicht mehr. wie eine alte uhr, deren herz aufgehört hat, zu schlagen.

als sie am frühen morgen nach einem schnellen frühstück und einem blick in die morgenzeitung das hotel verliess, hing die alte kamera an einem lederriemen um ihren hals. sie griff manchmal danach und hielt sie für einen kurzen augenblick fest. so ging sie die strassen entlang, warf manchmal einen blick in den stadtplan, den sie in ihrem rucksack mitgenommen hatte und kam nach einiger zeit am rand der stadt an. sie rastete einen moment im schatten einer gruppe von palmen, die die stadt wie einen wall aus frischem grün umgaben, lehnte sich an den stamm eines baumes und schloss die augen. wie von selbst fuhr ihre hand zu der alten kamera, sie umfasste sie vorsichtig und fühlte plötzlich, wie ein strom von erinnerungen, wie alte bilder in sepiafarben, dem uralten gegenstand entwich. sie wunderte sich kein bisschen. genau so hatte sie es sich vorgestellt. es war der richtige ort dafür.

sie sah die wüste, palmenhaine und menschen, die darunter lagerten, elegante männer und frauen in hotellobbies, an tischen sitzend, rauchend, sich angeregt unterhaltend, behandschuhte livrierte kellner, die auf silbernen tabletts getränke servierten, sie sah einen saal mit hohen fenstern, in dem kristalluster leuchteten, mit grossen spiegeln an den wänden und in den spiegeln sah sie paare tanzen, ein orchester auf einer bühne und eine sängerin vor einem antiken mikrophon, sie sah basare und händler, alte bücher, deren titel sie sogar lesen konnte, es waren alles bücher mit geheimnisvollem inhalt, die sie selbst gern besessen hätte. sie sah portraits von menschen, die in vielem unterschiedlich waren, denen aber immer eins gemeinsam war: sie hatten alle denselben ausdruck in den augen. interessante menschen, die sich gewiss nie mit der oberfläche der dinge zufriedengaben, sondern darunter sahen, zum herz der dinge, das, wie man weiss, niemals aufhört, zu schlagen. dann, ganz am schluss, blickte sie in ihr eigenes fragendes gesicht, das sich gerade über die kiste am dachboden beugte.

als sie die augen wieder öffnete, war der schatten der bäume um ein stück weitergewandert, die morgensonne schien ihr ins gesicht und liess die bilder, die sie gesehen hatte, zu schatten ausbleichen. wie ein sepiaschleier waren sie nun auf ihrer netzhaut gefangen und sie liess sie nicht wieder fort. mit der einen hand hielt sie immer noch die alte kamera umfasst.

sie lächelte. die wüste war für sie immer ein ort des lebens gewesen. wenn man unter die oberfläche der dinge blickt, dann ist es auch so. ein ort der stille, ein kraftvoller ort. nichts von den alten erinnerungen geht hier verloren. es gab nichts, was ablenken konnte, von der vergangenheit, vom jetzt. hier war alles ein ding.
begleitet von einem strom verblasster bilder, die im sonnenlicht wie feine schatten wirkten, betrat sie die wüste.
 
 
für imuhar